Obersendlings Metamorphose

Ehemals war das Industriegebiet von Obersendling die Werkbank von München. Siemens bestimmte lange Zeit das Viertel. Nach dem vollständigen Wegzug des Weltkonzerns durchläuft Obergiesing einen radikalen, aber spannenden Wandel zum Wohn- und Dienstleistungsgebiet.

 

Obwohl „Sentlinga“ bereits zur Zeit Karls der Großen erwähnt wurde, gab es Anfang des 19. Jahrhunderts im Gegensatz zu den nördlich gelegenen Reihendörfer an der westlichen Isarhangkante Mitter- und Untersendling in Obersendling nur sieben Wohnhäuser. Dann setzte um 1890 wie aus dem Nichts dort die Industrialisierung ein.

Voraussetzung dafür war die bereits 1857 erbaute und durch Obersendling verlaufende Eisenbahnlinie von München nach Holzkirchen. Ausgelöst wurde die Entwicklung Obersendlings vom kleinen Straßendorf zur Werkstatt Münchens aber durch eine der bedeutendsten Unternehmerpersönlichkeiten der Stadt, Jakob Heilmann. Als armer Handwerkersohn hatte Heilmann zunächst Architektur in der Baugewerkschule in München, am Züricher Polytechnikum und bei Martin Gropius  an der Berliner Bauakademie studiert, dann zunächst als Angestellter und später als Unternehmer in Bayern Eisenbahnen gebaut. 1888 gründete der 42-jährige Heilmann mit seinem Freund, dem Bankier Wilhelm von Finck, die Isarwerke, die mit dem 1894 in eröffneten Wasserkraftwerk Höllriegelskreuth das erste regionale Elektrizitätsversorgungsunternehmen in Deutschland war. Ursprünglich sollte damit München mit Strom versorgt werden, doch die Stadtväter lehnten eine Beteilung am Kraftwerk wegen „des hohen Risikos“ ab, weshalb zunächst das Dorf Thalkirchen mit dem dazugehörenden Obersendling sowie Pullach und Prinz-Ludwigshöhe mit Strom versorgt wurden.

Der Strom wurde jedoch zunehmend auch von Industrieunternehmen eingesetzt, die sich, wie die Erzgießerei von Johann Reissmüller, wegen der Nähe zu dem Isarwerk in Obersendling niederließen. Als erstes größeres Bauwerk wurde 1893 in Obersendling nach Plänen der Architekten Paul Pfann und Günter Blumentritt die Neue Schießstätte (siehe Bild links) im neubarocken Stil errichtet. Auch Heilmann siedelte große Teile des Isarwerks in Obersendling an der Hofmannstraße an. Sein mit seinem Schwiegersohn Max Littmann geleitete Bauunternehmen hatte ebenfalls in Obersendlingin ihren Sitz (Boschetsrieder Str 44, Bild links oben). Als Bauunternehmer und Projektentwickler errichteten Heilmann und Littmann Prachtbauten wie das Hofbräuhaus und das Prinzregententheater sowie die Villen-Kolonien Gern, Bogenhausen, Solln und Prinz-Ludwigshöhe, wo Heilmann und Littmann ihre Sommerresidenzen hatten.

1894 legte der 32-jährige Theodor Fischer, neu ernannter Vorstand des Münchner Stadterweiterungsreferats, für die Gegend westlich der Holzkirchner Bahn einen Baulinienplan fest, der bis heute den Straßenverlauf mit der Hauptachse Boschetsrieder Straße (siehe Bild links: Kreuzung Boschetsrieder Straße/Hofmannstraße) prägt. Seinen Plan, die Bedenken den umgebenden Wald in einen Park zu verwandeln, musste er aufgrund der Abholzung aber bald aufgeben. „Ernstliche Bedenken müssen dagegen geltend gemacht werden, dass durch die Anlage dieser Straße ein Terrain der Bebauung mit Fabriken zugeführt wird. Es dürften aber wohl Mittel zu finden sein, zu verhindern, daß auch der Wald einer derartigen Verbauung zum Opfer fällt“, so Fischer 1899. Doch mit der Industrieansiedlung wurde der Wald bis zum heutigen Südpark abgeholzt, auch zogen immer mehr Arbeiter in die vereinzelt entlang der Boschetsrieder Straße, der Baierbrunner Straße und der Hofmannstraße erbauten Mietshäuser.

Erst nach dem Ersten Weltkrieg  konnte Fischer mit der für den „Verein zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse in München“ die mustergültige Wohnanlage Zielstattstraße-Nelkenweg mit begrünten Innenbereiche erbauen (1918 – 1927), die – wie sein etwa zeitgleich erbaute Siedlung Alte Heide in Schwabing – mit dem Zeilenbau und industriellen Vorfertigung für gute Belichtung und Besonnung sowie für günstigen Wohnraums führte und übte damit beispielsweise Einfluss auf die Gestaltung der Siedlungsbauten von Bauhaus-Gründer Walter Gropius oder den Entwurf der Unite Habitation von Le Corbusier aus.

Emil Freymuth bringt die Architektur der Moderne nach Obersendling

Nach dem Bau von Fischers Wohnanlage am nördlichen Rande des Industriegebiet, entstand im noch moderneren Stil der Neuen Sachlichkeit nach einem Entwurf von Emil Freymuth der 1928 erbaute Trakt der Siedlung Freiland in der Aidenbachstraße (Bild unten links) im Süden Obersendlings, die aufgrund ihrer damals einsamen Lage auf der grünen Wiese ihren Namen verdiente.

Das bekannteste von Freymuth geplante Wohnquartier ist die Siemens-Siedlung, die zwischen 1952 bis 1958 zwischen Fischers Wohnanlage in der Zielstattstraße im Osten und einer Villensiedlung am Südpark im Westen erbaut wurde.

Siemens prägt den Stadtteil

1927 hatte Siemens die Isaria-Zählerwerke übernommen, die 1909 gegründet, in der Hofmannstraße eine Fabrik für Stromzähler betrieben. Die Siemens AG hatte nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Geschäftssitz nach München verlagert. Durch Zukäufe wurde das Areal an der Hofmannstraße auf knapp 80.000 Quadratmeter erweitert werden. Außer den Fertigungsstätten für Fernsprechanlagen, Verstärker für den Weitverkehr und Funkanlagen war hier ab 1955 auch das F&E-Zentrum von Siemens ansässig. 

Um Wohnungen für die Siemens-Angestellten im weitgehend zerstörten München zu bekommen, wurde eigens für die Siemensianer der Bau einer modernen Parkstadt nördlich der Boschetsrieder Straße beschlossen. Freymuth entwarf dafür mit 17 Geschossen die ersten Wohnhochhäuser Süddeutschlands (siehe großes Bild ganz oben), die er aufgrund ihres Grundrisses mit Treppe und Aufzüge im zentralen Kern und den drei Zacken mit jeweils einer Wohnung pro Geschoss Sternhochhäuser nannte.

Um sie herum gruppierte er weitere, vor allem in Nord-Süd-Richtung positionierte Gebäude (siehe Bild links) mit unterschiedlicher Anzahl von Geschossen. Sämtliche Wohnungen wurden mit Balkonen, Terrassen oder Loggien versehen, die gesamte Anlage liegt von einer Ladenzeile entlang der Boschetsrieder Straße vom Lärm abgeschirmt einer parkähnlichen Grünanlage.

 

Internationaler Stil à la Mies an der Siemens-Allee

Ein weiteres Wahrzeichen Obersendlings ist das Siemens Hochhaus an der Ecke Baierbrunner Straße / Siemens Allee am anderen Ende des Stadtviertels. Das 23 Stockweke umfassende und 75 Meter hohe Bürogebäude wurde in den Jahren 1961 bis 1963 nach den Plänen des Siemens-Hausarchitekten Hans Maurer, eines Bewunderers Ludwig Mies van der Rohe, erbaut. Es erinnert an das von Mies van der Rohe und Philip Johnson geplante New Yorker Seagram Building. Der Stahlbetonskelettbau des Siemens-Hochhaus enthielt vollklimatisierte Großraumbüros, die durch einen inneren Funktionskern mit Aufzügen erschlossen wurden. Die äußere Erscheinung wird durch die – an den Ecken nicht zusammenstoßende – Vorhangfassade aus Glas und Aluminium bestimmt. Der kristalline Solitär hebt sich von den anderen Bauten ab und eröffnet vom Inneren den freien Blick über den Hermann-von Siemens-Park bis auf die Alpen.

Den Park mit Grünflächen und Tennisanlagen gestaltete Hans Maurer mit dem Bauhaus-Schüler Rudolf Ortner und dem Landschaftsarchitekten Alfred Reich. Er war bislang Siemensianern vorbehalten. Siemens hat noch nicht entschieden, wer der künftige Eigentümer sein soll und wie das Naturschutzgebiet genutzt werden soll. 

Zusammen mit der firmeneigenen Bauabteilung entwarf Maurer den Gesamtplan für das komplette Siemens-Werk zwischen Hofmannstraße und Baierbrunner Straße (siehe Luftbild von Viertelböck/Patrizia links unten). Der Komplex setzt sich aus mehrgeschossigen, zeilenförmigen Trakten zusammen, deren vertikale Raster zum „architektonischen Logo“ der Siemens-Bauten der Nachkriegszeit wurde.

Zu dem Siemens-Komplex Hofmannstraße 51 gehören auch die weißen Häuser nördlich des Privatwegs, der zwischen Hofmannstraße und Baierbrunner Straße verläut. Die vier Bauten im strengen geometrischen Stil der Moderne von Le Corbusiers, wurden wie das ehemalige Siemens-Forum in der Maxvorstadt von dem New Yorker Architekten Richard Meier entworfen und um 1990 erbaut. Sind nun im Eigentum der Alstria office REIT-AG, die sie unter dem Namen Lichtblick vermietet.

So sehr Siemens Obersendling in der Nachkriegszeit voranbrachte, so stark wurde das Viertel später vom Strukturwandel des Konzerns getroffen. Wo in den 1980-er-Jahren noch 28.000 Menschen im Siemens-Werk Hofmannstraße arbeiteten, gibt heute keinen Siemensianer mehr. Der sinkende Anteil des Deutschlandsgeschäft, der Verkauf oder die Verlagerung großer Bereiche ins Ausland führte zu einem drastischen Personalabbau. Die Siemens Real Estate verkaufte fast alle Münchner Liegenschaften ausgenommen der Zentrale am Wittelsbacher-Platz. So wurde die Siemens-Siedlung nach Sanierung und Ergänzung eines Sternhochhauses durch Steidle Architekten 2009 an ein Konsortium aus Wohnbau, der GBW Gruppe und Volkswohnung (Karlsruhe) verkauft.

Projektentwickler nutzen Chance der freigewordenen Siemens-Grundstücke

Durch den Abzug von Siemens aus Obersendling und den Besitzwechsel großer Immobilienbestände wurde ein starker Wandel von einer industriell-gewerblichen Nutzung der Immobilien hin zur Wohn- und Dienstleistungsnutzung ausgelöst. Es gibt aktuell kein anderes Münchner Stadtviertel,in dem der Wandel des Immobilienmarktes durch Quartiersentwicklungen und Umnutzungen so umfassend und radikal ausfällt wie in Obersendling.

So erwarb der Rennfahrer und Immobilien-Unternehmer Hubert Haupt den östlichen Teil des Siemens-Campus inklusive des Siemens-Hochhaus bei der Baierbrunner Straße und entwickelte dort mit Klaus Wohnbau, Pandion und Baywobau / Terrafinanz zwischen 2010 und 2014 das Quartier Südseite

 

Zwischen Das neue Quartier erstreckt sich über Obersendling hinaus in den östlich der Bahnlinie gelegenenen Bezirksteil Thalkirchen. Dort entstanden in einer Randbebauung und in fünf Wohntürmen die meisten der über 1000 errichteten Wohneinheiten. Einzelhandel, Büros und Arztpraxen (VIVA-Südseite) befinden sich dagegen ebenso wie Studentenwohnungen und Schulbauten entlang der Baierbrunner Straße noch in Obersendling.

2015 wurde zudem an der südwestlichen Ecke Kistlerhofstraße / Hofmannstraße von der Büschl Unternehmensgruppe und der Demos die Kistlerhof Gärten mit 170 Wohnungen fertig gestellt. Die sechs von prpm Architekten entworfene Häuser zeichnen sich durch die markante Architektur der umrandeten Balkons und Loggien aus (siehe Foto links).

Zwischenden Kistlerhof Garten und der Südseite – südlich von der Baustelle, auf der aktuell das Generalkonsulat der Volksrepublik China entsteht – hat die Patrizia AG Ende 2013 ein 29.000 Quadratmeter große westliche Areal des Siemens-Campus an der Hofmannstraße von der RG Real Grundbesitz GmbH aus Grünwald erworben, auf dem für rund 300 Millionen Euro rund 1000 Wohnungen errichten wird. 

2015 lobte die Patrizia einen Wettbewerb aus. Der Entwurf von Rapp+Rapp B.V., Amsterdam, mit Lützow 7 Garten- und Landschaftsarchitekten, Berlin gewann den 1. Preis (siehe Visualisierung links). Er wird nun die Grundlage für die Aufstellung eines Bebauungsplanes bilden. Zeitgleich lobte Hubert Haupt einen Wettbewerb für den Umbau des Siemens Hochhauses zur Wohnnutzung aus, den Meili, Peter Architekten Zürich/München für sich entscheiden konnten. Entwickeln werden die dort vorgesehenen 270 Eigentumswohnungen die Isaria Wohnbau, die das Siemens Hochhaus mittlerweile von Haupt erworben haben.

E.on-Wegzug eröffnet Entwicklungsflächen

Im Westen Obersendlings wurde durch den Abzug des Versorgers E.on ebenfalls große Flächen zur Stadtentwicklung frei. Während das Baudenkmal Heizkraftwerk Drygalski-Allee nun nach Umbau vom Möbelhaus Kare als Verkaufs- und Büroflächen genutzt wird, entsteht nach Entwicklung der Accumulata auf dem ehemaligen Holzimprägnierwerk für Strommasten der früheren Isar-Amperwerke AG ein großes Wohnviertel. Für das Quartier am Südpark mit 1300 Wohnungen führte OB Dieter Reiter bereits im März 2016 mit den Projektentwicklern den Spatenstich durch. Die Accumulata, das Wohnungsbauunternehmen Concept-Real und die städtische GEWOFAG wollen die Neubauten auf dem ehemaligen E.ON-Gelände zwischen Drygalskiallee, Kistlerhofstraße und Boschetsrieder Straße bereits bis Ende 2018 beziehungsweise Ende 2019 fertig stellen.

Schließlich ist auch für den ehemaligen Siemens-Parkplatz zwischen Hofmannstraße und Gmunder Straße ein neues Wohnquartier vorgesehen. Im Sommer 2015 hat die Rock Capital Group das Grundstück erworben und will dort zusammen mit einem mit einem erfahrenen Wohnungsbaupartner Wohnungen errichten. „Wir hoffen, dass wir bis 2019 dort bis zu 400 Wohneinheiten bauen können“, so Peter G. Neumann, Geschäftsführer Rock Capital Group in Grünwald.

Weil mit den neuen Bewohnern der Bedarf an Schulen steigt, will die Stadt am Ratzinger Platz statt dem dort seit einem Planungswettbewerb aus dem Jahr 1999 vorgesehenen Stadtteilzentrum nun eine Grundschule errichten. Und in der Gmunder Straße soll sogar ein Gymnasium entstehen. Der eigentliche Quartiersplatz soll sich dann an der Zeppelinhalle, einem Industriedenkmal, dass zur Zeit von der FH München als Lackierei-Standort genutzt wird, befinden. In der Halle sollen Läden untergebracht werden.

Damit wäre dann die Verwandlung ähnlich von eine Raupe zu einem Schmetterling abgeschlossen. Statt industriell zu fertigen, wird dann in Obersendling gewohnt und konsumiert.

 

 

 

Das Viertel in Zahlen

Obersendling, dass 1900 zusammen mit Thalkirchen in München eingemeindet wurde, bildet heute der nördliche Bezirksteil des südlichen 19. Münchner Stadtbezirks. Im Südwesten grenzt Obersendling von der Drygalski-Allee getrennt an das Nachbarviertel Forstenried und nordwestlich gegenüber der Höglwörther Straße an den Bezirksteil Am Waldfriedhof des 7. Münchner Stadtbezirk. Zu diesem Bezirk gehört auch Mittersendling, das etwas nördlich der Zielstattstraße an Obersendling grenzt. Nordöstlich von der Schießstätte befindet sich Untersendling vom Stadtbezirk Sendling.

Im Westen bildet die heutige S-Bahn-Linie und frühere Bahnlinie nach Holzkirchen die Grenze zum Nachbarviertel Thalkirchen. Und südlich der Linie Becker-Gundahl-Straße südlich des Werner-von-Siemens-Park nach Westen entlang der Wilbrechtstraße und dem östlichen Abschnitt der Stäblistraße bis zur Drygalski-Allee liegt das benachbarte Solln, das ebenfalls zum sündlichen 19. Stadtbezirk gehört.

Einwohner: Die Altersstruktur der Bevölkerung von Obersendling entspricht etwa der von München. Der Ausländeranteil ist relativ hoch.

Infrastruktur:  Das Viertel ist mit der S-Bahn-Linie S7 (Haltestelle Mittersendling, Siemenswerke) und der U-Bahn-Linie U 3 (Obersendling, Aidenbachstraße) gut an das ÖPNV-Netz angebunden. Einzelhandel befindet sich an der Boschetsrieder Straße, Freizeitmöglichkeiten sind mit dem Südpark gegeben. Der Siemens-Park soll geöffnet werden.

Immobilien: Vielseitige und gemischt genutzte Bebauung. Neben Geschosswohnungsbauten nördlich der Boschetsrieder Straße und den Neubauquartieren gibt es im Südwesten viele Einfamilien- und Reihenhäuser.

 

 

Quellen: Quellen: Denis A. Chevalley, Timm Weski: Denkmäler in Bayern – Landeshauptstadt München, Südwest, Band 1 und 2; http://www.isargeschichten.de/Buch/Buch.Kraftwerke.html; https://www.siemens.com/history/de/aktuelles/1298_siemens-in-muenchen.htm

Bildnachweise: Luftbild Siemens Campus, Patrizia AG, Foto: Viertlböck; Visualisierung Campus Süd, Patrizia AG, Rapp + Rapp B.V/ Lützow 7, sonst: Fotografien, Ulrich Lohrer