Oscar Niemeyer und die brasilianische Architektur der Moderne

Oscar Niemeyer, der bereits in den 1930er-Jahren mit Le Corbusier zusammenarbeitete, gilt als der Wegbereiter der modernen brasilianischen Architektur. In 78 Schaffensjahren entwarf er rund 600 Projekte in mehreren Kontinenten.

 

Niemeyer wurde unter den Namen Oscar de Almeida Soares am 15. Dezember 1907 als eines von sechs Kindern aus einer katholischen Familie in Rio de Janeiro in Brasilien geboren. Sein Vater arbeitete als Schriftsetzer und hatte ein Grafikbüro, sein Großvater war Richter am brasilianischen obersten Gerichtshof. Später nahm Oscar den deutschen Nachnamen Niemeyer seiner Großeltern väterlicherseits an.

Niemeyer absolvierte seinen Schulabschluss am katholischen Gymnasium der Ordensgemeinschaft der Barnabiten in Rio. 1928 heiratete er Annita Baldo, Tochter italienischer Einwanderer, und begann sein Studium der Architektur an der Escola Nacional de Belas Artes in Rio de Janiero, das es 1934 mit dem Bachelor der Architektur abschloss.

Lúcio  Costa und der internationale Stil

Nach dem Studium arbeitete er in dem Typographie-Büro seines Vaters. Obwohl er sich in einer finanziell prekären Situation befand, drängte er darauf, in dem Architekturbüro von Lúcio  Costa, Gregori I. Warchavchik und Carlos Leão zu arbeiten, obwohl diese ihn nicht bezahlen konnten.

Costa war Direktor der Escola Nacional de Belas Artes und lehrt dort den neuen internationalen Stil. Zusammen mit Warchavchik realisierte er mit dem Apartmenthaus Vila Operária da Gamboa (1934) für Arbeiter eine der ersten Bauten im internationalen Stil, zu deren führenden Vertreter er mit  Affonso Eduardo Reidy in Brasilien zählte.

 

Gustavo Capanema Palast und Le Corbusier

 

1936 wurde Costa vom Bildungsminister Gustavo Capanema beauftragt den neuen Sitz des Ministeriums in Rio de Janiero zu entwerfen. Costa sammelte dafür eine Reihe junger Archtekten – Carlos Leão, Affonso Eduardo Reidy, Jorge Moreira and Ernani Vasconcellos – und auf dessen Drängen auch Oscar Niemeyer, um das Gebäude zu gestalten. Zudem bestand Costa darauf, das der berühmteste Vertreter der Architektur der Moderne, der französische Architekt  Le Corbusier als Berater zu dem Projekt hinzugezogen werden sollte. Niemeyer wurde beauftragt, während Le Corbusiers Aufenthalt in Brasilien als dessen Assistent Zeichnungen und Entwürfe zu erstellen. Nach Le Corbusiers Abreise gab Costa Niemeyer eine Schlüsselstellung für die Ausarbeitung des Projekts, das zusammen mit der Gestaltung der Grünanlagen durch Roberto Burle Marx 1943 fertiggestellt wurde.

Das Gebäude ist das weltweit erste staatlich finanzierte Hochhaus im Stil der Architektur der Moderne. Es setzte in der Fassadengestaltung die von Le Corbusier favorrisierte „brise-soleil“ – Sonnenblenden – ein und beeinflusste damit und mit der funktionalen Gestaltung das Skyscaper der Moderne von Ludwig Mies van der Rohe oder Gordon Bunshaft  (Lever House).

 

Pampulha und Juscelino Kubitschek

1940 lernte Niemeyer den jungen Bürgermeister von Belo Horizonte, Juscelino Kubitschek, kennen, der ihn beauftragte einige Gebäude für Pampulha , einen neuen Vorort von Belo Horizonte zu gestalten. Der von Niemeyer entworfene Pampulha Architektur-Komplex beinhaltete ein Kasino, ein Restaurant mit Tanzhalle, einen Yacht Club, einen Golf Club und eine Kirche. Alle Gebäude sind um einen künstlichen See angeordnet, die Landschaft wurde von Roberto Burle Marx gestaltet. Auch Kubitscheks Wochenendhaus wurde nahe des Sees errichtet. Niemeyer ließ sich zwar bei der Gestaltung von Le Corbusiers Prinzipien beeinflussen, entwickelte aber mit geschwungenen und kurvigen Elementen einen eigenen Stil, der als Niemeyers Pampulha Stilphase bekannt wurde. Hauptwerk des Komplexes ist die Kirche Sao Francisco de Assis, dessen Dach die Form einer Parabel hat.

 

Der Sitz der Vereinte Nationen in New York

1939 hatte Niemeyer zusammen mit Costa den brasilianischen Pavillon für die Weltausstellung in New York entworfen und lernte dabei New Yorks Bürgermeister Fiorello Henry La Guardia kennen, der sich später entscheidend für Niemeyers Teilnahme an der Ausarbeitung des Hauptsitzes der Vereinten Nationen in New York einsetzte.

1947 beauftragten die Vereinten Nationen (United Nations – UN) den Architekten Wallace K. Harrison ein internarionales Architektenteam zusammenzustellen, um einen Entwurf für den Hauptsitz der UN in New York auszuarbeiten. Dem Team gehörten N.D. Bassov (Sowjetunion) , Gaston Brunfaut (Belgien), Ernest Cormier (Kanada), Le Corbusier , Liang Ssu-cheng (China), Sven Markelius (Schwden), Anne-Claus Messager , Oscar Niemeyer , Howard Robertson (Großbritannien), G.A. Soilleux (Australien), Garrett Gruber , and Julio Villamajo (Uruguay) an, wobei Le Corbusier der bekannteste und Niemeyer der jüngste Teilnehmer war.    

Jeder Architekt sollte einen sowohl einen eigenen Entwurf, als auch einen gemeinsamen Entwurf vorlegen. Le Corbusier drängte Niemeyer auf seinen eigenen Entwurf zugunsten eines gemeinsamen Entwurfs mit Le Corbusier zu verzichten. Der Vorsitzende Harrison ermutigte Niemeyer, dessen Entwurf er für den besten hielt, jedoch seinen eigenen Entwurf zu präsentieren, der von den Teilnehmer gewählt wurde.

 

Niemeyers Entwurf sah ein alleinstehendes Gebäude für die Generalversammlung, einen langen Block für die anderen Besprechungsräume (Konferenzgebäude) und einen 39 Stockwerke (155 Meter)  hohen Turm für das UN- Sekretariat vor – die nicht miteinander verbunden waren um so dazwischen einen Platz zu schaffen. Obwohl sich die Jury für Niemeyers Komposition entschieden hatte, drängte Le Corbusier Niemeyer und die anderen Teilnehmer den Entwurf im Sinne seiner Komposition anzupassen. Schließlich ließ sich Niemeyer darauf ein, die Gebäude anderes zu platzieren, obwohl dies seine Idee des zentralen Platzes zerstörte. „Ich spürte, dass er (Le Corbusier) das Projekt so wünschte, und er war der Meister. Ich bereue meine Entscheidung nicht“, so Niemeyer später.

Der Grundstein für das neue UNO-Hauptquartier in New York wurde am 24. Oktober 1949 gelegt. 1951 wurde der Gebäudekomplex fertiggestellt, im folgenden Jahr zog die UN-Behörde ein.

 

Hochhäuser, Parks und Villen

In den Folgejahren entwarf Niemeyer auch zahlreiche Hochhäuser in São Paulo, wie das Edifício Copan, das Edifício Montreal, das Edifício Califórnia (mit Carlos Lemos), das Edifício Triângulo und das Edifício Itatiaia. Zusammen mit Roberto Burle Marx entwarf er Bereiche und Bauten des Ibirapuera Park São Paulo (Bild oben links) und auch entwarf für sich selbst die Casa das Canoas in Rio de Janeiro.

Das bekannteste Hochhaus ist Edifício Copan – aufgrund seiner ungewöhnlich geschwungenen Sinusform und seiner Größe. Das 118 Meter hohe Bauwerk beinhaltet 1160 Apartments und sollte eine Unterkunft für alle soziale Schichten bilden. Ursprünglich sollte noch ein ähnlich konstruiertes Hotelgebäude entstehen, das am Ende jedoch nicht erbaut wurde. Niemeyers Entwurf sah zudem einen Park außerhalb des Gebäudes vor, einen zweiten Park in dem geöffneten Bereich des ersten Stocks sowie ein frei zugängliche Dachterrasse vor. Der für den Park vorgesehene Platz wurde jedoch durch ein Bankgebäude zugebaut und der freie Bereich im ersten Stock geschlossen. Auch Niemeyers soziale Durchmischung ist heute nicht mehr gegeben, da die Apartments von der gehobenen Mittelschicht bewohnt werden. Aufgrund seiner geschwungenen Form hat das Gebäude jedoch zahlreiche Künstler inspiriert: In Filme, bekannte Fotografien und Bilder wurde das Copan abgebildet.

Brasília

Am 3. Oktober 1955 wurde Juscelino Kubitschek als Kandidat einer Mitte-links-Koalition zum Staatspräsidenten von Brasilien gewählt. Er initierte die Verlagerung der Hauptstadt zur Planstadt Brasília in der bis dahin weitgehend menschenleeren Mitte des Landes. Lúcio Costa wurde sein ausführender Stadtplaner, alle öffentlichen Gebäude in der auf dem Reißbrett geplanten Stadt stammen aus Niemeyers Hand: der Nationalkongress von Brasilien, die Kathedrale von Brasilia, der Wohnsitz / Residenz (Palácio da Alvorada) und die Arbeitsräume (Palácio do Planalto) des Präsidenten, der oberste Gerichtshof und das Außenministerium. Die um das Jahr 1960 entstandenen, in experimenteller Ansatz entworfenen zählen zu seinen bekanntesten Entwürfen. Die Stadt entstand in Rekordzeit und wurde am 21. April 1960 eingeweiht. Nach dem Militärputsch in Brasilien 1964, verließ Niemeyer, der seit 1945 Mitglied der kommunistischen Partei war, das Land.

Bauwerke außerhalb Brasiliens

Anläßlich einer Ausstellung reiste Niemeyer nach Paris und wählte es als Exil. Von seinem Pariser Büro entwarf er zahlreiche Gebäude, so die Parteizentrale der Parti communiste français, PCF, Paris, Frankreich, das Verlagsgebäude von Mondadori in Mailand und verschiedene öffentliche Bauten in Algerien. In dieser Zeit entwarf er auch Möbel wie Stühle und Sessel. 

Spätes Leben und Auszeichnungen

Mit dem Ende der Militärdiktatur in Brasilien 1985 kehrte Niemeyer in sein Heimatland zurück. Er blieb politisch aktiv und war von 1992 bis 1996 Präsident der kommunistischen Partei Brasiliens und pflegte eine lebenslange Freundschaft mit Kubas Staatschef Fidel Castro.

1988 wurde ihm mit dem Pritzker Architekturpreis die renommierteste Auszeichnung für Architekten verliehen, die aber mit Gordon Bunshaft teilte. 1998 erhielt er die Goldmedaille des Royal Institute of British Architects (RIBA), 2004 auch das Praemium Imperiale. Als Architekt entwarf er auch im hohen Alter zahlreiche Bauwerke und arbeitete bis kurz vor seinem Tod am 5. Dezember 2012 im 104. Lebensjahr.

Werke (Auswahl):

1936: Bildungsministerium Gustavo Capanema Palast (u.a. mit Lucio Costa, Affonso Eduardo Reidy, Le Corbusier, Roberto Burle Marx), Rio de Janiero, Brasilien

1938: Grande Hotel Ouro Preto, Brasilien

1939: Brasilianisches Pavillon der Weltausstellung (mit Lucio Costa), New York, USA

1940: Komplex Pampulha mit Kirche St. Franc. Assisi, Belo Horizonte, Brasilien

1946: Zentrale Banco Boavista in Candelaria, Rio de Janiero, Brasilien

1946: Schule Cataguases, Brasilien

1947: Hauptsitz der Vereinten Nationen (mit Le Corbusier), New York, USA

1951: Ibirapuera Park (mit Roberto Burle Marx), São Paulo, Brasilien

1951: JK Building, Belo Horizonte, Brasilien

1951: Edifício Copan, São Paulo, Brasilien

1952: Casa das Canoas, Rio de Janiero, Brasilien

1954: Residência Cavanelas, Brasilien

1954: Interbau-Gebäude im Hansaviertel, Berlin

1954: Edifício Montreal, São Paulo, Brasilien

1955: Edifício Califórnia (mit Carlos Lemos), São Paulo, Brasilien

1955: Edifício Triângulo, São Paulo, Brasilien 

1956: Edifício Eiffel, São Paulo, Brasilien 

1957: Edifício Itatiaia, São Paulo, Brasilien 

1957: Palácio da Alvorada, Brasília, Brasilien

1958: Catedral Metropolitana Nossa Senhora Aparecida, Brasília, Brasilien

1958: Congresso Nacional, Brasília, Brasilien

1958: STF - Supremo Tribunal Federal, Brasília, Brasilien

1958: Palácio do Planalto, Brasília, Brasilien

1958: Teatro Nacional Cláudio Santoro, Brasília, Brasilien

1959: Palácio do Jaburu, Brasília, Brasilien

1960: Praça dos Três Poderes (mit Lucio Costa), Brasília, Brasilien

1962: Palácio Itamaraty, Brasília, Brasilien

1963: University of Haifa, Israel,

1965: Parteizentrale der Parti communiste français, PCF, Paris, Frankreich

1968: Mondadori Verlagsgebäude, Mailand, Italien

1968: Moschee Algier, Algier, Algerien

1969: Université des sciences et de la technologie Houari-Boumediene, Algerien

1975: La Coupole d’Alger Arena , Chéraga, Algerien

1976: Casino da Madeira,Funchal, Madeira, Portugal

1981: Leisure Island in Abu Dhabi, VAE

1982: Kulturzentrum Volcano, Le Havre, Frankreich

1983: Sambadrome Marquês de Sapucaí, Rio de Janiero, Brasilien

1996: Museu de Arte Contemporânea de Niterói — MAC, Rio de Janiero, Brasilien

2002: Museu Oscar Niemeyer, Curtiba, Brasilien

2003: Serpentine Gelery, London

2008: Puerto de La Musica, Rosário, Argentinien

2011: Centro Cultural Internacional Oscar Niemeyer, Avilés, Spanien

2011: Tribunal Superior Eleitoral, TSE, Brasília, Brasilien

2012: Torre de TV Digital de Brasília, Brasília, Brasilien

2012: Museu de Arte Popular da Paraíba, Campina Grande, Brasilien

Bildnachweis (von oben nach unten):

Esplanada dos Ministérios, Brasília, D.F., Foto: Mario Roberto Durán Ortiz; Oscar Niemeyer, 1977, Fotograf: Roger Pic - Bibliothèque nationale de France ; Palácio Gustavo Capanema) Gustavo Capanema Palace Ministry of Education and Health, Rio de Janeiro, Imagens AMB - Enviado pelo autor; Igreja de São Francisco de Assis, vista da lagoa da Pampulha, Foto: Andreborgeslope, CC BY-SA 3.0