
Untergiesing: Die Genossen an der Isarau
Lange war das Überflutungsgebiet unterhalb Giesings unbewohnt. Dann zogen arme Tagelöhner und Handwerker in die Lohe, später Arbeiter in die Genossenschaftswohnungen von Untergiesing. Nun drängen Kreative und Gutverdienende in das ehemalige Glasscherbenviertel – Anwohner befürchten weitere Mietanstiege.
Wir lassen uns nicht für Profit ausunseren Vierteln vertreiben – Gentrifizierung angreifen!“, ist an einer Mauer der Giesinger Bräu gesprüht.
Vor drei Jahren war die 2005 gegründete Hinterhofbrauerei von einer Untergiesinger Garage auf den Giesinger Berg gezogen. Gegenüber der Heilig-Kreuz-Kirche wurde mittels Crowdfunding ein modernes Bräuhaus mit Bräustüberl eröffnet. Das ehemalige Arbeiterviertel ist bei Start-ups und Kreativen „in“.
Unbewohnbares Schwemmland
Lange wollte in Untergiesing niemand freiwillig wohnen. Weil die Isar den Auwald, die Lohe, häufig überschwemmte, wurde zunächst nur der Berg durch Bauern besiedelt. Unten wurde allerdings schon sehr früh die Mühle zu Kiesingenum (Giesing) erwähnt, die der Edle Wolftregli im Jahr 957 an dem Bischof von Freising übertrug.
Mit dem Bau der Frauenkirche und der größeren Stadtmauer im ausgehenden Mittelalter zog München aus allen Landen Handwerker und Tagelöhner an. Sie durften aufgrund ihres fehlenden Bürgerrechts nicht in der Stadt wohnen und zimmerten sich am Mühlbach, auf dem von den Bauern nicht nutzbaren Grund, „Herbergen“.
Den am Bau beteiligten Handwerkern gehörten – ähnlich wie Genossenschaftsmitglieder – einzelne Räume als Teil dieser Holzhütten. In der Folge zogen auch „fahrendes Volk, Deserteure, Dirnen und Gesindel“ in die Lohe, in dem ab dem 16. Jahrhundert mehr Menschen wohnten als im Bauerndorf Giesing.
Der Flair der Birkenau
Um 1840 verkaufte ein Bauer zudem das etwas südwestlich gelegene Grundstück Birkenwäldchen, in dem die Kolonie Birkenau mit den typischen einstöckigen Häusern in Ziegelbauweise und den drei Fenstern an der Längsseite, entstand.
Während in der Birkenau etliche dieser Häuser erhalten sind (Birkenau 18, Birkenau 27 – 29: Bild links oben, Obere Weidenstraße 20), wurden die meisten hölzernen Herbergshäuser aufgrund der unhygienischen Verhältnisse und wegen des Ausbaus der Giesinger Steig nach dem Aufkauf der Stadt München abgerissen. Das einzig erhaltene Holzhaus, ist das ehemals als Blockhaus errichtete und in den 1990er-Jahren vom Eigentümer sorgfältig restaurierte Gebäude am Mühlbach (4a).
Untergiesing wird Industrieviertel
Im Jahr 1808 gründete der jüdische Kaufmann Ignaz Mayer, Hoffaktor des pfälzischen Kurfürsten Karl Theodor, am Auer Mühlbach eine Lederfabrik, die das bayerische Militär belieferte. Als Mayer 1824 starb, übernahm sein Schwager, der Bankier Arnold von Eichthal, die Fabrik und vergab die Leitung an Franz Kester, der sie zur größten Lederfabrik auf dem Kontinent ausbaute.
Südlich davon befanden ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine Eisen- und Lokomotivfabrik, ab 1875 die Maschinenfabrik Ungerer und später eine Eisengießerei. In der Sommerstraße gab es ein Fahrzeugbau, in der Lorrainstraße eine Färberei, die heute als Ausstellungsort für Graffiti, Streetart, und Malerei junger Künstler dient. Ein ebenfalls erhaltener, von den Jugendstilarchitekten Hessemer und Schmidt im Reformstil entworfener Fabrikbau (Untere Weidestraße 5), wird heute als Bürogebäude von der VG-Wort genutzt.
Untergiesinger werden Wohngenossen
1910 gründeten Handwerker, Arbeiter und Stadtkapläne den Bauverein Giesing und erwarben von der Stadt günstig das Grundstück gegenüber dem drei Jahre zuvor von Hans Grässel errichteten Grundschule am Agilofingerplatz. Von der Terraingesellschaft Heilmann und Littmann ließ die Genossenschaft darauf eine Wohnanlage mit 187 Wohnungen vom Agilofingerplatz bis zur Gerhardtstraße (siehe Bild oben links – links Schule) errichten.
Später baute der Giesinger Bauverein eine weitere große Wohnanlage entlang der Hans-Mielich-Straße (siehe Bild oben links – rechts St. Franziskus). Entworfen wurde diese von Richard Steidle, aus dessen Feder auch die kurz davor (1925) fertiggestellte neobarocke Pfarrkirche St. Franziskus stammt.
Um die Jahrhundertwende wurde in Isarnähe das Schyrenbad ausgebaut, die Sportanlagen errichtet und von Richard Schachner die architektonisch interessanten Gebäude für die Abfallwirtschaft mit Bürogebäude und Direktorenvilla in der Sachsenstraße 6 bzw. 31 errichtet.
Blutige Spuren der Freikorpsverbände in Giesing
1901 entstand nach einem Entwurf von Carl Hocheder das Marianum, eine Ausbildungsstätte für behinderte Mädchen.
Während der blutigen Niederschlagung der Münchner Revolution im Arbeiterviertel Giesing im Frühjahr 1919 diente das Gebäude an der Wittelsbacher Brücke als Hauptsitz der Freikorpsverbände. Über 700 Menschen, darunter viele Zivilisten, kamen dabei ums Leben.
Die Neue Sachlichkeit des Helmuth Wolff
In der Folge wurde durch die städtische Wohngsbauprogramme von Karl Preis auf für die Arbeiterschaft erschwinglichen Wohnraum bereitgestellt. 1927 entstand der von dem Architekten Helmuth Wolff im Stil der Neuen Sachlichkeit entworfene Wohnkomplex an der Pilgersheimerstraße 19 bis 29 (siehe Bild oben links). Wolff, heute nahezu vergessen, floh 1933 als Jude in die Niederlande, wo er als Fotograf arbeite. Als die Deutschen in die Niederlande einmarschten, nahm er sich 1940 das Leben.
Auf dem Areal der Lederfabrik errichtete 1930 die Münchner Siedlungsgesellschaft die Großsiedlung Pilgersheimer Str. 31-89, die Eigentum der VBL ist.
Kreative und Gutverdiener entdecken Untergiesing
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwanden weitere Fabriken und industriell geprägte Firmen. Seit der Jahrtausendwende zentrumsnahe Untergiesing mit dem Schyrenbad, den Sportanlagen und dem Rosengarten in Isarnähe wurde zum begehrten Wohnviertel der Gutverdiener und Kreativen. So kauften der Designer Uwe Binnberg und der Künstler Christoph Nicolaus den Hochbunker Claude-Lorrain-Straße 16 und bauten ihn zum Wohnen um, indem sie darauf einen Penthouse-Glaskasten setzten (Bild oben links).
In „Klein-Venedig“ in der Mondstraße entstanden an den Bestand gut anepasste, aber moderne Ein- und Mehrfamilienhäuser (siehe Bild links) und in der Birkenau 18-20 erweiterte der Architekt Volker Thun ein Herbergshaus um einen eingeschossigen Holzbau (Bild links unten).
Das aktuell größte Projekt der Gegend ist die Entwicklung des Osram-Areals Hellabrunner Straße 1 mit immerhin rund 400 Wohneinheiten durch die ABG und die Büschl-Gruppe. Das Gebiet befindet sich aber nicht mehr in Untergiesing, sondern auf der anderen Seite der Candidstraße bereits im südlich angrenzenden Viertel Siebertsbrunn.
Die Wohnungspreise werden aber bis zum Vertriebsstart sicherlich über 7000 Euro pro Quadratmeter liegen. Wohnen in Untergiesing wird teurer – sofern die Bewohner nicht in einer günstigen Genossenschaftswohnung leben.
erstellt am 08.02.2017, Ulrich Lohrer
Das Viertel in Zahlen
Untergiesing ist der nördlichste Bezirksteil des 18. Münchner Stadtbezirk Untergiesing-Harlaching. Im Norden verläuft die Grenze entlang der Humboldtstraße zur Unteren Au des Stadtbezirks Au-Haidhausen. Im Westen bildet die Isar die Grenze zum nordwestlich gelegenen Dreimühlenviertel des Stadtbezirks Ludwigvorstadt-Isarvorstadt und südlich davon zum Sendlinger Feld des Stadtbezirks Sendling. Südlich des Mittleren Ring im Abschnitt der Candidstraße liegt das Nachbarviertel Siebenbrunn und auf der Hangkante, südöstlich des Sechzger Stadions Giesing, beides ebenfalls Bezirksteile des Bezirk Untergiesing-Harlaching.
Im Westen, oberhalb des Auer Mühlbachs (siehe Bild links: Klein Venedig an der Mondstraße) befindet sich der Bezirksteil Obergiesing des Stadtbezirks Obergiesing-Fasangarten.
Einwohner: Untergiesing ist eine der am dichtesten bewohnten Stadtteile Münchens. Der Ausländeranteil, die Altersstruktur und das Durchschnittsalter entsprechen in etwa dem Durchschnitt der Stadt, es gibt aber relativ viele Single-Haushalte.
Infrastruktur: Das Viertel ist über die U-Bahnhöfe Kolumbusplatz (Linien U1, U2, U7) und Candidplatz (U1) an das ÖPNV-Netz angebunden. Einzelhandel gibt es in der Humboldtstraße und Pilgersheimer Straße (Nr. 31/ Ecke Kühlbachstraße: Aldi, siehe Bild links). Freizeitmöglichkeiten bieten das Schyrenbad, die Sportanlagen und die Isarau.
Immobilien: Die Angebotsmieten sind in den vergangenen fünf Jahren um 28 Prozent, die Eigentumswohnungspreise um knapp 70 Prozent gestiegen.
Im Mietspiegel für München 2015 der Landeshauptstadt München wird der gesamte Bereich von Untergiesing als durchschnittliche Wohnlagequalität eingestuft.
Literatur:
Martin Arz: Giesing – Reiseführer für Münchner, 2014
Thomas Guttmann (Hrsg.) Giesing: Vom Dorf zum Stadtteil – Beiträge zur Geschichte und Gegenwart Giesings und Harlachings, 2004